Denkst du noch oder fühlst du schon?
31. Juli 2024
Für uns war es von zentraler Bedeutung, die Zusammenhänge zwischen Emotionen und neuroplastischen Schmerzen & Symptomen zu verstehen. Da die Aufklärung beim Mind Body Verständnis und daraus abgeleiteten Behandlungsmethoden eine zentrale Rolle spielt, möchten wir mit diesem Blogbeitrag einen Erklärungsversuch wagen. Wir verwenden bewusst den Begriff ‘Versuch’, da die Zusammenhänge komplex sind und noch nicht vollständig erforscht wurden. Dennoch gibt es wichtige Aspekte, die ihr unserer Meinung nach unbedingt wissen solltet.
Was die Forschung sagt
Aus der Forschung weiss man, dass Widerstand gegen und Unterdrückung von Emotionen körperliche Schmerzen und Symptome verursachen können1. Zahlreiche Studien belegen, dass das Unterdrücken von Emotionen die Stressreaktion des Körpers aktiviert und unter anderem den Spiegel von Stresshormonen erhöht2. Eine chronische Aktivierung dieser Stressreaktion führt zu einer Dysregulation des Nervensystems und einem Hirn, das sich ständig in Gefahr wähnt. Ein solches Hirn kann mit Alarmsignalen wie Schmerz und anderen Symptomen warnen. Je häufiger dies geschieht, desto sensibler wird das Alarmsystem, und desto öfter treten die Schmerzen und Symptome auf. Diese werden sozusagen gelernt und es entstehen neuroplastische Schmerzen & Symptome.
Es gibt Studien zu diesem Thema, die bereits aus den frühen 1980er Jahren stammen3 – es handelt sich also um kein neues Gebiet. Dennoch wird die Arbeit mit Emotionen und deren Bedeutung für den menschlichen Körper und unsere Gesundheit in der klassischen Medizin weitestgehend unterschätzt, wenn nicht sogar gänzlich ignoriert.
Was steckt hinter diesen Forschungsergebnissen?
Emotionen sind ein wichtiger Überlebensmechanismus, der durch einen langen evolutionsbiologischen Prozess entstanden ist. Sie signalisieren unsere Bedürfnisse und steuern unser Verhalten in verschiedenen Situationen4. Antonio Damasio hat viel darüber geschrieben, für diejenigen, die noch tiefer in das Thema eintauchen möchten.
Wir verfügen nur über einige wenige Grundemotionen, die jedoch allen Menschen gleich sind: Angst, Wut, Traurigkeit, Ekel, Verachtung, Freude und Überraschung/Interesse. Auch Scham wird manchmal zu den Emotionen gezählt, entwickelt sich jedoch erst im sozialen Kontext. Ein Neugeborenes empfindet noch keine Scham. Auf das Thema Schuld werden wir weiter unten im Text eingehen.
Diese Emotionen entstehen im ältesten Teil unseres Hirns, oft auch als ‘Reptilienhirn’ bezeichnet. Wichtig zu wissen ist, dass die Hirnareale, die für unsere Emotionen verantwortlich sind, auch an der Erzeugung von Schmerzen und anderen Symptomen beteiligt sind.
Als Emotionen wahrgenommen, erzeugen die körperlichen Phänomene – ja, Emotionen sind körperliche Phänomene – eingeleitet durch elektrochemische Kommandos, Handlungsimpulse zur Lebenserhaltung oder Energieversorgung, Nahrungsbeschaffung, Flucht- oder Kampfreflexe, Schutzsuche vor Umwelteinflüssen, Sexualverhalten, Bindung, Entspannung und Erholung. So zeigt uns Wut beispielsweise an, dass eine Grenze überschritten wurde und wir uns schützen oder verteidigen müssen. Traurigkeit zeigt uns, dass eine Veränderung oder ein Verlust eingetreten ist und möglicherweise unser Bedürfnis nach Bindung in Gefahr ist. Dies ist stark vereinfacht, aber fürs Erste kannst du Folgendes mitnehmen: Emotionen sind ein evolutionsbiologischer Mechanismus zur Lebenserhaltung – und keineswegs nur nebensächliches ‘Gefühlsgedusel’!
Wir lernen über unser soziales Umfeld bzw. durch biografische Erfahrungen, die durch Emotionen angezeigten Grundbedürfnisse (Nahrung, Schlaf, Nähe/Bindung, Temperaturregulation) zu befriedigen. Als Baby, wenn wir das noch nicht selbst können, werden diese Bedürfnisse von unseren Bezugspersonen befriedigt (Co-Regulation) – oder sie werden eben nicht ausreichend befriedigt. Dadurch lernen wir entweder gut oder weniger gut, unsere Emotionen und Bedürfnisse selber zu regulieren (über Co-Regulation lernen wir Selbstregulation). Können wir in der frühkindlichen Entwicklung die Erfahrung der Bedürfnisbefriedigung nicht ausreichend machen, entsteht eine Dysregulation. Aufgrund dieser Emotionsdysregulation, die jede:r in gewissem Masse aufweist, entwickeln wir Strategien, um die Bedürfnisse stellvertretend zu befriedigen und trotzdem zu «überleben». Diese Strategien und Muster tragen wir oft bis ins Erwachsenenalter mit uns herum, obwohl sie uns dann möglicherweise überhaupt nicht mehr dienen oder sogar kontraproduktiv sind.
Wut als Schutzmechanismus: Die Auswirkungen frühkindlicher Prägung und gesellschaftlicher Normen
Aus evolutionsbiologischer Sicht ist Wut eine lebensnotwendige Emotion. Sie signalisiert uns, dass unsere Grenzen überschritten wurden und wir diese verteidigen müssen, um uns selbst zu schützen und unser Überleben zu sichern. Wenn dieses Signal – die Wut – nicht richtig funktioniert, können wir unsere dadurch angezeigten Bedürfnisse nicht angemessen erfüllen.
Jedoch kann es vorkommen, dass wir in der frühkindlichen Entwicklung nicht ausreichend lernen, dass Wut eine akzeptable und notwendige Emotion ist. Wenn wir als Kinder dazu gezwungen wurden, uns zu beruhigen, wenn wir wütend waren – etwa indem wir auf unser Zimmer geschickt wurden, bis wir uns „normlal“ benahmen – lernt unser kindliches Hirn, dass Wut mit Bindungsentzug verbunden ist. Diese Erfahrung kann dazu führen, dass unser Nervensystem Wut als eine unerwünschte Emotion aus dem Repertoir verbannt.
Zusätzlich prägen gesellschaftliche Normen und soziale Erwartungen unser Verständnis und unsere Bewertung von Wut. In der patriarchal geprägten Gesellschaft, in der wir uns befinden, wird insbesondere bei Frauen Wut oft nicht gleichermassen akzeptiert wie bei Männern, da sie nicht den stereotypischen Eigenschaften von Frauen – wie z.B. Sanftheit, Anpassungsfähigkeit und Schutzbedürftigkeit – entspricht. Mädchen lernen früh, dass Wut eine „Jungs-Eigenschaft“ ist, und dass das Ausdrücken von Wut nicht mit ihren sozialen Rollen übereinstimmt. Ähnliche Stereotypen gelten auch für andere Emotionen wie z.B. Traurigkeit im Kontext männlicher Eigenschaften.
Diese tief sitzenden Prägungen beeinflussen, wie wir unsere Emotionen erleben und ausdrücken, und können dazu führen, dass wir wichtige emotionale Signale unterdrücken, nicht angemessen nutzen können und daraus neuroplastische Schmerzen & Symptome entstehen oder aufrechterhalten werden können.
Aber wie entstehen nun aus Emotionsdysregulationen neuroplastische Schmerzen & Symptome?
Hier wird es komplexer und wir vereinfachen wieder relativ stark.
Einerseits ist es so, dass, wenn uns die Strategien, die wir uns aneignen, in einen Zustand erhöhter Alarmbereitschaft versetzen, dies zur Entstehung und Aufrechterhaltung von neuroplastischen Schmerzen & Symptomen beitragen kann. Oft sind diese Strategien mit bestimmten Charakterstrukturen, Persönlichkeitsmerkmalen und Verhaltensweisen verbunden.
Die Folgen frühkindlicher Prägung: Perfektionismus, People Pleasing und ihre Auswirkungen auf die Gesundheit
Erfahren wir im Rahmen der frühkindlichen Entwicklung nicht ausreichend bedingungslose Liebe, kann sich daraus eine starke Leistungsorientierung und übermässiger Perfektionismus entwickeln. Diese Verhaltensweisen entstehen, weil das Kind lernt, dass Liebe und Bindung an Bedingungen geknüpft sind. Es wächst mit der Überzeugung auf, dass es nur durch aussergewöhnliche Leistungen und Perfektion Liebe und die notwendige emotionale Bindung erhalten kann, die es für sein Überleben benötigt. Diese unbewusste Programmierung kann sich im Erwachsenenalter in einem übermässigen Perfektionismus zeigen, der nicht nur zu erheblichem emotionalen Stress, sondern auch zu neuroplastischen Schmerzen & Symptomen führen kann.
Wenn ein Kind früh im Leben Konflikten im Haushalt ausgesetzt ist, neigt es dazu, diese Konflikte auf sich selbst zu beziehen – ein natürlicher Überlebensmechanismus. Ein Neugeborenes benötigt Bindung und Sicherheit, um zu überleben, und wird unbewusst die Verantwortung für die Probleme der BEzugspersonen übernehmen. Es gibt sich selbst die Schuld dafür, dass die Bezugspersonen nicht gänzlich in der Lage sind, sich vollständig auf das Kind, seinen Rhythmus und seine Bedürfnisse einzustellen. In einem verzweifelten Versuch, die notwendige Bindung zu sichern, stellt das Kind seine eigenen Bedürfnisse hinten an und richtet sich nach den Bedürfnissen der Bezugspersonen. Dieses Verhalten – das Bedürfnis, es allen recht zu machen und sich selbst zurückzustellen – entwickelt sich zu einer dauerhaften Tendenz des „People Pleasings“ und einem Aufgeben der eigenen Grenzen und letztlich der Authentizität.
Solche Prägungen und Verhaltensmuster, die in der frühen Kindheit entstehen (aber auch durch unsere Sozialisation in einer patriarchal geprägten Gesellschaft), haben weitreichende Auswirkungen auf unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden als Erwachsene. Sie programmieren unser Hirn und Nervensystem auf bestimmte Weise, wie wir uns selbst und unsere Umwelt erleben. Wenn wir uns mit diesen Prägungen auseinandersetzen und verstehen, wie sie unsere gegenwärtigen Verhaltensweisen und damit Gesundheitszustände beeinflussen, bewegen wir uns in Richtung der traumainformierten Arbeit.
Ein weiterer Weg, wie neuroplastische Schmerzen & Symptome entstehen können, ist, wenn wir nicht gelernt haben, dass sämtliche Emotionen sicher sind. Wenn unser Hirn bestimmte Emotionen als nicht sicher bzw. als gefährlich einstuft und sie deshalb unterdrückt oder aus unserem emotionalen Repertoire verbannt hat, funktioniert die Anzeige für die Bedürfnisbefriedigung nicht mehr richtig. Dies führt zu Stress im System und aktiviert den Sympathikus. Unser System muss einen alternativen Weg finden, um die Bedürfnisbefriedigung zu erreichen. In diesem Fall kann das Alarmsystem ‘Schmerz’ aktiviert werden, um uns zu einer Verhaltensanpassung zu motivieren.
Stellen wir uns Anna vor, ein Mädchen, das als Kind nie wirklich erfahren und gelernt hat, dass es in Ordnung und "sicher" ist, traurig zu sein.
Annas Eltern hielten emotionale Ausdrucksformen mehrheitlich für Schwäche und förderten eine Haltung des „Tapfer-Seins“ und „Nicht-Weinens“. Ganz oft hat Anna die Worte "sei stark" und "hör auf zu weinen" gehört. Rasch hat sie gelernt, dass Traurigkeit nicht erwünscht ist und statt ihre Traurigkeit offen zu zeigen und darüber zu sprechen, lernte Anna, ihre Gefühle zu unterdrücken und sie für sich zu behalten. Warum? Weil Anna Ablehnung oder negative Reaktionen erhielt, wenn sie versuchte, ihre Traurigkeit zu zeigen, begann sie, ihre Gefühle zu verstecken, um nicht erneut Ablehnung oder Kritik zu erfahren. Das ist grundsätzlich ein schlauer Selbstschutzmechanismen, wenn wir als Kinder auf die Fürsorge und Bindung unserer Bezugspersonen angewiesen sind: Kinder entwickeln Mechanismen, um sich emotional zu wappnen, besonders wenn sie wiederholt erleben, dass ihre Gefühle nicht anerkannt oder geschätzt werden. Dies kann dazu führen, dass sie lernen, Emotionen zu unterdrücken, um sich vor emotionalem Schmerz zu schützen.
Diese frühen Erfahrungen beeinflussten im Erwachsenenalter Annas Fähigkeit, Emotionen zu verarbeiten. In ihrem familiären und sozialen Umfeld wurde der Ausdruck von Traurigkeit nicht akzeptiert oder sogar negativ bewertet. Der Mangel an positiven Vorbildern durch die Bezugspersonen (Kinder lernen über Co-Regulation und Spiegeln) verstärkte diese Tendenz. Als Erwachsene spiegelt sich diese unterdrückte Traurigkeit in Schwierigkeiten wider, diese Emotion wahrzunehmen, auszudrücken und zu regulieren, was sich in chronischen Schmerzen und anderen gesundheitlichen Problemen äussern kann.
Sind Emotionen das gleiche wie Gefühle?
Vielleicht fragst du dich jetzt, warum wir ständig von Emotionen sprechen und was es mit den Gefühlen auf sich hat – ob das dasselbe ist. Laut Antonio Damasio ist dem nicht so.
Die mentale und kognitive Auseinandersetzung mit Emotionen erzeugt Gefühle5. Es ist also die kognitive Bewertung und Interpretation der Emotionen, die Gefühle in Bezug auf Situationen, Beziehungen und unser Selbst hervorrufen. Wir nehmen angenehme und unangenehme Emotionen wahr, bewerten sie, und daraus entstehen Gefühle, die sich auf Situationen, Beziehungen und unser Selbst beziehen. Gefühle drücken sich durch Körperempfindungen, Gedanken und innere Bilder aus und beeinflussen, wie wir mit Emotionen und der Bedürfnisbefriedigung in sozialen Beziehungen umgehen. Somit stehen Gefühle in direkter Verbindung mit unserer (frühkindlichen) Prägung und erlernten sozialen Normen und Werten.
Von Schuldgefühlen zu mehr Klarheit: Die Entdeckung der zugrunde liegenden Emotion
Schuld ist keine Emotion, sondern vielmehr eine Bewertung oder Interpretation der zugrunde liegenden Emotionen wie beispielsweise Angst oder Traurigkeit. Diese Sichtweise eröffnet interessante Möglichkeiten für den Umgang mit Schuldgefühlen. Wenn wir verstehen, dass Schuld nur die Art und Weise ist, wie wir auf Basis unserer frühkindlichen Prägungen und erlernten Interpretationen auf eine tiefere Emotion reagieren, können wir ganz anders mit ihr umgehen.
Stellen wir uns vor, wir fühlen uns schuldig und erkennen, dass dieses Schuldgefühl lediglich eine Bewertung ist, die auf tiefer liegenden Emotionen basiert. Anstatt uns endlos im Schuldgefühl zu verlieren, können wir uns auf diese zugrunde liegenden Emotionen konzentrieren. Vielleicht entdecken wir, dass hinter der Schuld viel Traurigkeit oder Angst steckt. Indem wir uns diesen ursprünglichen Emotionen zuwenden, können wir unsere Erfahrung differenzierter verstehen und gezielter bearbeiten.
Durch diese Erkenntnis gewinnen wir die Fähigkeit, das Schuldgefühl als einen Hinweis auf emotionale Zustände und damit in Verbindung stehende Bedürfnisse zu betrachten, statt als Endpunkt. Diese Umstellung ermöglicht es uns, uns nicht zu lange mit dem Schuldgefühl aufzuhalten, sondern es als Ausgangspunkt für eine tiefere emotionale Auseinandersetzung zu nutzen. Auf diese Weise kann sich das Schuldgefühl wandeln, während wir die zugrunde liegenden Emotionen und Bedürfnisse anerkennen und bearbeiten, was zu einer umfassenderen emotionalen Heilung führen kann.
Es gibt zahlreiche Gefühle, die stets subjektive Erfahrungen sind und wandelbar bleiben. Wie am Beispiel der Schuld erklärt, hängen sie mit unserer Prägung zusammen und damit, wie wir gelernt haben, Emotionen zu interpretieren. Im Gegensatz dazu sind Emotionen ein evolutionsbiologischer Mechanismus, der allen Menschen gemeinsam ist - die Frage ist lediglich, ob wir gelernt haben, dass alle Emotionen sicher sind.
Und jetzt? Was kannst du tun?
Keine Emotion ist von sich aus gut oder schlecht - es geht um unseren Umgang damit. Können wir Emotionen urteilsfrei wahrnehmen und in Verbindung mit der Vernunft in Handlung umsetzen, dient dies unserer Integrität & Unversehrtheit und damit letztendlich unserem Überleben. Zu lernen, unseren verdrängten Emotionen zu erlauben, an die Oberfläche zu kommen und sie vollständig körperlich zu spüren, ist der Schlüssel dazu, dass das Nervensystem einen anhaltenden Erregungszustand verlässt und nicht mehr mit Schmerzen & anderen Symptomen warnen muss.
Wie das gehen soll und wie eine Annäherung stattfinden kann, darüber sprechen wir in Folge 9 vom Podcast ‘Muss das so wehtun?‘.