Was ist Schmerz? Weshalb haben wir Schmerzen? Wie entstehen sie und wie werden sie chronisch? Wie können wir sie behandeln und heilen?
Ein korrektes Schmerzverständnis zu erlangen, ist massgeblicher Bestandteil der Behandlung von chronischen Schmerzen & Symptomen. Hier fassen wir den aktuellen Stand der Forschung zusammen. Es gibt diesen Inhalt auch als Hörbuchfolge im Podcast ‘Muss das so wehtun?’ (Folge 2), den wir co-hosten.
Hinweis: Auch wenn sich die nachfolgenden Abschnitte mehrheitlich auf den Ausdruck Schmerz beziehen, umfassen die Erklärungen auch verschiedenste andere chronische Symptome. Das Hirn ist in der Lage sämtliche Empfindungen im Körper zu erzeugen, bemerkenswerterweise auch in Abwesenheit tatsächlicher struktureller und organischer Probleme.
Was ist Schmerz?
Schmerz ist ein wirksamer Schutzmechanismus. Er warnt uns vor Gefahren und schützt uns vor Schäden, indem er uns motiviert, unser Verhalten anzupassen.
Wir ziehen reflexartig die Hand von der heissen Herdplatte zurück und vermeiden dadurch Verbrennungen. Ohne die schmerzhafte Empfindung würden wir zu spät bemerken, dass Gewebe geschädigt wird.
Wenn ich mir beim Rennen den Knöchel verstauche, führt der einsetzende Schmerz dazu, dass ich stehen bleibe. Ich schone mich eine Zeit lang damit die Verletzung heilen kann.
Bei Organproblemen wie einer Blinddarmentzündung hilft der Schmerz, eine Störung überhaupt erst zu bemerken. So können wir entsprechend reagieren und weitere Schäden verhindern.
Aus evolutionsbiologischer Sicht wurde der Mechanismus Schmerz ausgebildet, um uns das Leben zu retten. Schmerz ist somit im Grunde etwas Gutes und ein wichtiger Überlebensmechanismus1.
Wir können die Sache aus einer anderen Perspektive betrachten: Wer aufgrund eines Gendefekts keine Schmerzen empfinden kann, hat es sehr schwer im Leben. „Die Unfähigkeit, Schmerz zu empfinden, ist ein Fluch“, betont Harro Albrecht in seinem Buch „Schmerz“. Er hat die sogenannten Cipa-Kinder von Be’er Scheva in Israel besucht: Kinder, die wegen eines Erbgutfehlers nie Schmerzen empfinden, selbst bei schwersten Verletzungen nicht. Schon als Kleinkinder sind sie übersät von Narben und blauen Flecken und haben oft schon Gliedmassen verloren, weil sich Wunden entzündeten. „Weil die Kinder gern an ihren Fingern nagen, ziehen ihnen Ärzte vorsorglich die Zähne.“
Wie entsteht Schmerz?
Schmerz entsteht im Hirn und nicht dort, wo wir ihn im Körper fühlen1-7. Ein Beweis für die Rolle des Hirns liefert unter anderem der Phantomschmerz - eine Schmerzempfindung in einer Gliedmasse, die nicht mehr vorhanden ist8.
Um zu verstehen, wie Schmerz entsteht, müssen wir das Zusammenspiel von Körper und Hirn verstehen. Zunächst müssen wir zwischen dem empfundenen Schmerz und der Nozizeption unterscheiden.
Die Nozizeption ist die neutrale Wahrnehmung von Reizen, die den Körper potenziell oder tatsächlich schädigen. Spezialisierte Nervenzellen (Nozizeptoren) nehmen Reize wahr, senden Informationen über das Rückenmark zum Hirn und informieren dieses über eine mögliche Gefahr an der betroffenen Körperstelle. Die Nozizeptoren werden durch äussere und innere Schädigung mechanischer, thermischer oder chemischer Art aktiviert. Für sich alleine betrachtet, sind die Signale der Nozizeptoren, welche im Hirn ankommen, neutral. Sie informieren nicht über Schmerzen im betroffenen Körperteil. Sie informieren bloss, dass da etwas ist, worauf es nun möglicherweise zu reagieren gilt. Erreichen Nozizeptoren-Signale das Hirn, bildet sich dieses unter Einbezug aller ihm zur Verfügung stehender Informationen eine Meinung darüber, ob und wie viel Schmerz notwendig ist, um uns zu einer Verhaltensanpassung zu motivieren und uns so vor (weiteren) Schäden zu schützen. Die neutralen Signale der Nozizeptoren sind nur einer von vielen Faktoren, die mitbestimmen, ob und wie viel Schmerz entsteht. Sie sind sogar ein untergeordneter Faktor. Nozizeption findet ständig statt, aber erst, wenn andere Faktoren hinzukommen, empfinden wir tatsächlich Schmerzen. Umgekehrt können Schmerzen auch ganz ohne entsprechende Signale aus dem Körper entstehen.
Die Entstehung der Schmerzempfindung ist ein hochkomplexer Vorgang, welcher noch nicht bis ins letzte Detail erforscht ist. Dennoch hat die Wissenschaft in den letzten Jahren enorme Fortschritte im Verständnis von Schmerzen erzielt.
Es sind bisher 44 Hirnareale bekannt, die daran beteiligt sind, Schmerz zu erzeugen5. Es sind Hirnareale beteiligt, die auch für unsere bewussten Gedanken (Grosshirn), unsere Emotionen (Limbisches System) und die Aufmerksamkeit (Präfrontaler Cortex) zuständig sind3, 4. Zu den Informationen, die das Hirn dabei verarbeitet, gehören unter anderem der Situationskontext, frühere Erfahrungen und unsere Emotionen.
Schauen wir uns ein Beispiel im Detail an: Ich laufe durch den Wald und trete unglücklich auf eine Wurzel. Die Nozizeptoren im Fuss nehmen das missglückte Auftreten wahr und leiten ein Signal über das Rückenmark ins Hirn. Bis jetzt fühle ich noch keinen Schmerz. Im Hirn arbeiten 44 Areale zusammen, um das Signal zu verarbeiten und eine angemessene Reaktion zu erzeugen. Mit einbezogen werden der Kontext (wo befinde ich mich, mit wem bin ich hier oder bin ich alleine?), meine Erinnerungen und meine Erwartungen (gab es schon einmal ein solches Erlebnis, wie schlimm waren die Folgen?), meine Emotionen und vieles mehr. Das Hirn kommt zum Entschluss, dass es sinnvoller ist, stehenzubleiben und den Fuss zu entlasten. Es sendet entsprechende Signale an den Körper. Erst jetzt spüre ich den Schmerz und entlaste sofort den Fuss. Schmerz ist die Antwort des Hirns auf die Gefahrensignale aus dem Knöchel. Schmerz ist damit eine Kommunikation zwischen Hirn und Körper.
Lorimer Mosley erklärt diesen Vorgang anschaulich in seinem TED-Talk (deutscher Untertitel vorhanden).
Für die Rolle des Hirns in Bezug auf Schmerzen gibt es die berühmte Geschichte des Bauarbeiters, der auf einen Nagel tritt. Sie erzählt davon, dass ein Bauarbeiter bei der Arbeit von einem Podest direkt auf einen Nagel gesprungen ist, der sich daraufhin von unten durch seinen Schuh nach oben gebohrt hat. Der Bauarbeiter litt Höllenqualen und wurde sofort in die Notaufnahme gebracht. Dort entfernte man vorsichtig den Schuh, entdeckte aber keine Verletzung. Wie durch ein Wunder war der Nagel zwischen den Zehen hindurch gegangen. Weshalb fühlte der Bauarbeiter dann aber trotzdem diese schlimmen Schmerzen? Durch den visuellen Input vom Nagel im Schuh hat sein Hirn angenommen, dass grosse Gefahr besteht und mit Schmerz gewarnt. Es handelte sich jedoch um einen Fehlalarm. Das Hirn hat neutrale Signale aus dem Körper, welche unter anderen Umständen vielleicht nur zu einem Kitzeln geführt hätten, in dieser Situation als gefährlich eingestuft.7
Dieses Phänomen konnte später in verschiedenen Experimenten reproduziert werden. Forschende haben beispielsweise Proband:innen mittels EEG-Haube an eine Maschine angeschlossen und den Proband:innen wurde gesagt, dass minimale Stromstösse in ihr Hirn geleitet werden und dass dies zu leichten Kopfschmerzen führen könne. Allerdings handelte es sich bei der Maschine um eine Attrappe, es wurden keine Stromstösse verabreicht. Das Resultat des Experiments war eindrücklich: Die Hälfte der Proband:innen hat während des Experiments über Kopfschmerzen berichtet.9
Schmerz: Ein biopsychosoziales Phänomen
Das Hirn entscheidet unter Einbezug kognitiver, emotionaler und sensorischer Informationen über die Entstehung und die Regulation von Schmerzen. Schmerz ist somit ein biopsychosoziales Phänomen.10-18 Das biopsychosoziale Modell beinhaltet biomedizinische Aspekte, die Psyche des Individuums sowie das soziale Umfeld. Nicht nur Signale von Nozizeptoren bestimmen, ob Schmerz entsteht, sondern auch psychosoziale Faktoren wie vorherrschende Emotionen (Angst, Wut, …), kognitive Faktoren (Gedanken, Wahrnehmung, Überzeugungen, Aufmerksamkeitsprozesse), der Kontext (Stressfaktoren, physische Umwelt, …), soziale Komponenten (Kultur, sozioökonomischer Status, …) und biografische Komponenten wie beispielsweise traumatische Erfahrungen. Manchmal löst das Hirn keine Schmerzreaktion aus, obwohl eine Verletzung besteht, nämlich immer dann, wenn Schmerzen die Gefahrensituation verschlimmern, statt verbessern könnten. Unter Einbezug aller zur Verfügung stehender Informationen, kommt das Hirn zu unterschiedlichen Resultaten, wenn es Signale aus dem Körper im Hirn verarbeitet. Je nachdem entsteht Schmerz - oder eben auch nicht. Es gibt dazu ein anschauliches Beispiel mit einem Säbelzahntiger, für das jedoch etwas Fantasie nötig ist.
Szenario 1: Nach meinem missglückten Lauf heute Morgen sitze ich mit verstauchtem Knöchel gemütlich auf dem Sofa und schaue mir eine spannende Episode meiner Lieblingsserie an. Weil ich durstig bin, möchte ich mir etwas zu trinken holen. Vor lauter Spannung habe ich jedoch kurzzeitig vergessen, dass mein Knöchel verstaucht ist und mein achtloses Aufspringen wird umgehend quittiert mit einem stechenden Schmerz, der mir durch den Knöchel schiesst. Mein Hirn hat entschieden, dass es meinen Knöchel zu schonen gilt, damit er gut heilen kann. Aua, aber gut - setze ich mich eben wieder hin und lasse mir etwas zu trinken bringen.
Szenario 2: Gleiche Situation wie vorher. Wieder schaue ich gebannt auf den Bildschirm, während ich in den Augenwinkeln plötzlich eine Bewegung aus der Richtung des Fensters wahrnehme. Ich blicke hin und das Herz rutscht mir in die Hose: da sitzt ein Säbelzahntiger direkt vor meinem offenen Fenster und macht Anstalten, mich anzugreifen. Reflexartig springe ich auf und rette mich aus dem Raum. Ich spüre keinerlei Schmerz in meinem Knöchel. Warum ist das so? Das Hirn hat entschieden, dass es für mein Überleben gerade wichtiger ist, mich vor dem Säbelzahntiger in Sicherheit zu bringen, als meinen Knöchel zu schonen, damit er rasch heilt. Unter Einbezug aller zur Verfügung stehender Informationen kommt das Hirn zu unterschiedlichen Resultaten, wenn es Signale aus dem Körper im Hirn verarbeitet. Je nachdem entsteht Schmerz - oder eben auch nicht.
Salopp gesagt ist Schmerz die Meinung des Hirns darüber, wie bedrohlich unsere Gesamtsituation ist. Wichtig ist dabei die Feststellung, dass diese Beurteilung zutreffen kann - aber nicht zwingend muss. Das Beispiel weiter oben mit dem Bauarbeiter illustriert, dass sich das Hirn irren kann, wenn es entscheidet, dass wir in Gefahr sind und beschützt werden müssen.
Akute vs. chronische Schmerzen
Schmerz, der weniger als drei Monaten andauert, wird akuter Schmerz genannt. Typischerweise ist er das Resultat einer Verletzung oder akuten Krankheit. Beispiele sind ein Knochenbruch, Verbrennungen zweiten Grades oder Glieder- und Muskelschmerzen während einer Grippe. Akuter Schmerz hat einen biologischen Zweck. Er soll uns vor weiteren Schäden schützen, damit verletztes Gewebe, verletzte Strukturen und kranke Organe heilen können.
Bleibt Schmerz hartnäckig und ausdauernd mehr als drei Monate bestehen oder kommt er immer wieder, spricht man von chronischem Schmerz. Chronische Schmerzen hängen mit Veränderungen im Hirn und im Nervensystem zusammen19-24. Wenn Schmerz chronisch wird, sind zum Teil andere Hirnregionen aktiv als bei akutem Schmerz. Es sind unter anderem die Zentren für Lernen und Erinnerung25. In den meisten Fällen haben chronische Schmerzen keinen biologischen Zweck (mehr): Das Gewebe ist unterdessen geheilt oder war nie geschädigt. Es besteht keine Gefahr für weitere Verletzungen.
Betrachten wir Rückenschmerzen als Beispiel: Bei Rückenschmerzen werden oft MRI-Scans der Wirbelsäule durchgeführt, und die Behandlung dann auf gefundene Auffälligkeiten ausgerichtet. Das Problem dabei ist, dass die Wissenschaft heute davon ausgeht, dass es sich meistens um Fehlbehandlungen handelt. Die gefundenen Auffälligkeiten an der Wirbelsäule sind nur in seltenen Fällen die Ursache der Rückenschmerzen. Eine Metastudie aus dem Jahr 2014 kommt zum Schluss, dass je nach Alter bei bis zu 90% der Proband:innen ohne Rückenschmerzen solche Auffälligkeiten wie zum Beispiel degenerierte Bandscheiben, Bandscheibenvorfälle und Arthritis bestehen26. Heute geht man davon aus, dass solche Auffälligkeiten der Wirbelsäule ein natürlicher Alterungsprozess sind, ähnlich wie Falten im Gesicht und graue Haare. Es wurden zudem zahlreiche Studien veröffentlicht, die belegen, dass Operationen bei Rückenschmerzen oft nicht zielführend sind27-32. Chronische Rückenschmerzen werden so oft erfolglos versucht durch Operationen zu beheben, dass sich dafür ein medizinischer Begriff etabliert hat: Failed-Back-Surgery-Syndrom30.
Chronische Schmerzen und chronische Symptome in verschiedenster Form (Rückenschmerzen, Nackenschmerzen, Spannunungskopfschmerzen, Nigräne, Symptome von Fibromyalgie, dem chronischen Fatigue Syndrom, Reizdarmsymptome, Schwindel und Übelkeit, …) sind oft nicht Ausdruck von strukturellen oder organischen Problemen im Körper, sondern das Resultat von reversiblen psychophysiologischen Lernprozessen im Hirn33-35. Dieses Phänomen ist als neuroplastische Schmerzen bekannt36, 37.
Neuroplastische Schmerzen
Als neuroplastische Schmerzen werden Schmerzen bezeichnet, welche nicht (mehr) auf strukturelle oder organische Ursachen im Körper zurückzuführen sind. Es sind Schmerzen, die sich sozusagen verselbständigt haben. Man nennt sie auch "primäre Schmerzen", weil sie für sich stehen und nicht ein Symptom von einer Verletzung oder Erkrankung sind.Vor dem Hintergrund, dass Schmerz eine Konstruktion des Hirns ist, welches verschiedene Informationen verarbeitet, um zu entscheiden ob, in welcher Intensität und wie lange Schmerz gefühlt werden soll, können auch Fehlentscheide vorkommen. Das Hirn kann Fehler machen! Neuroplastische Schmerzen entstehen dadurch, dass das Hirn harmlose, neutrale Botschaften des Körpers als gefährlich fehlinterpretiert und mit Schmerz “warnt”, obwohl keine tatsächliche Gefahr besteht.
Mit anderen Worten: Neuroplastischer Schmerz ist ein Fehlalarm.
Das ist dann problematisch, wenn diese Fehlinterpretation zur Normalität wird und das Hirn darauf trainiert wird, diesen Fehlalarm auszusenden und unnötigerweise Schmerz zu erzeugen. Das heisst, chronische neuroplastische Schmerzen sind gelernt und antrainiert.38, 39
Das Gute ist, dass ein fehlerhaftes Schmerzsystem dank der Neuroplastizität auch wieder „umtrainiert“ werden kann. Wir können uns die Flexibilität und Plastizität des Hirns zunutze machen, neue neuronale Pfade entwickeln und so chronische Schmerzen & Symptome wieder verlernen.
Was ist Neuroplastizität?
Neuroplastizität ist die Fähigkeit des Hirns, sich zu verändern, zu reorganisieren und neue synaptische Verbindungen als Reaktion auf neue Inputs zu bilden. Sie ist die adaptive Reaktion des Hirns auf neue Situationen. Unser Hirn besteht aus neuronalen Schaltkreisen, die immer dann gebildet werden, wenn wir eine bestimmte Tätigkeit konsequent ausüben. Die Schaltkreise können aber auch verloren gehen, wenn wir mit der Tätigkeit aufhören. Das Phänomen ist bekannt als „Neurons that fire together, wire together“: Je mehr etwas geübt wird und bedingt, dass sich Neuronen zu einem Netzwerk zusammenschliessen, desto stärker wird dieses Netzwerk.40, 41
Wenn ich Französisch lerne und die Sprache viel benutze, bilden sich neue neuronale Pfade in meinem Hirn und das Sprechen und Verstehen fällt mir immer leichter. Wenn ich die Sprache aber kaum mehr benutze, verändern sich die neuronalen Strukturen wieder und meine Sprachfähigkeit verringert sich.
Während das Hirn die Fähigkeit besitzt, neue neuronale Strukturen zu bilden und somit neue Gewohnheiten zu etablieren, besitzt es leider auch die Fähigkeit, sich weniger gute Gewohnheiten anzutrainieren – oder es lernt eben, Schmerzen ohne ersichtlichen Grund und Nutzen zu erzeugen.
Angst als treibende Kraft
Um von neuroplastischen Schmerzen & Symptomen zu heilen, ist es wichtig, sich mit der Ursache zu befassen, weshalb das Hirn überhaupt normale, harmlose Signale als gefährlich interpretiert und meint, es müsse mit Schmerz warnen. Wenn wir verstehen, wie es zu dieser Fehlinterpretation kommt, können wir das Resultat beeinflussen.
Was ist die Ursache von neuroplastischen Schmerzen? Was ist die treibende Kraft hinter dem Schmerz?
Es ist die Angst.42-51
Wichtig: Der Begriff “Angst” dient im Zusammenhang mit chronischen, neuroplastischen Schmerzen & Symptomen als eine Art Sammelbegriff. Er fasst all jene Gefühle und deren Interpretation zusammen, welche unser Hirn in einen Zustand erhöhter Alarmbereitschaft versetzen: Verzweiflung, Frustration, Hilflosigkeit, Unruhe, Sorge, …
Angst gehört zusammen mit Schmerz zu unserem Alarmsystem. Aus evolutionsbiologischer Sicht hilft uns die Angst, Gefahren zu identifizieren und zu bemerken. Angst versetzt uns in einen Zustand erhöhter Alarmbereitschaft und dies kann die Art und Weise verändern, wie Signale aus dem Körper wahrgenommen und verarbeitet werden. Um uns zu schützen, verstärkt Angst Sinneswahrnehmungen und potenzielle Bedrohungen. Studien haben beispielsweise gezeigt, dass uns Lärm lauter erscheint52 und wir sensibler auf Gerüche reagieren53, wenn wir Angst haben.
Angst verstärkt aber nicht nur die Sinneswahrnehmungen. Angst verstärkt auch das Alarmsignal Schmerz. Wenn das Hirn eine Empfindung als gefährlich einstuft, hat es die Möglichkeit, mit Schmerz zu warnen. Angst und all jene Gefühle, die unter diesem Begriff zusammengefasst werden, können Schmerz verursachen oder verstärken.53, 54
Bei einer Studie aus dem Jahr 2008 reagierten Proband:innen auf die Berührung mit einer Hitzesonde mit unterschiedlich starken Schmerzen, je nachdem ob sie gleichzeitig furchteinflössende Bilder anschauten oder nicht. Manchmal fühlten die Proband:innen sogar Schmerzen ohne Berührung durch die Hitzesonde. Allerdings nur, während sie sich aufgrund von Angst in einem Zustand von erhöhter Alarmbereitschaft befanden.55
Woher kommt diese Angst?
Weshalb ist unser Hirn darauf programmiert, ständig auf der Hut zu sein und überall Gefahr zu wittern? Die Aufmerksamkeit und Ängstlichkeit waren über Jahrtausende ein evolutionärer Vorteil.
Man stelle sich ein total entspanntes Zebra in der Serengeti vor, das am Fressen ist und verträumt in die unendliche Weite blickt. Daneben gibt es ein zweites Zebra, welches nervös um sich blickt, die Ohren gespitzt hält und jede Veränderung in der Umwelt sofort registriert. Eine Quizfrage: Welches der beiden Zebras wird wohl eher vom Löwen gefressen, der sich anschleicht? Richtig, das entspannte und verträumte Exemplar.
Wie auch beim Schmerz, ist Angst jedoch keine Tatsache, sondern eine Meinung des Hirns. Wenn z.B. Signale von unseren fünf Sinnen das Hirn erreichen, wird dort in Nanosekunden entschieden, was zu tun ist. Bei dieser Entscheidung sind zum Teil die gleichen Hirnregionen involviert, wie bei der Entscheidung, ob und wie viel Schmerz nötig ist, um uns vor einer Gefahr zu warnen. Dies liegt daran, dass Angst zusammen mit Schmerz zum Mechanismus gehört, der uns vor Gefahren warnt und unser Überleben sichert. Die Schmerz- und Angstschaltkreise liegen im Hirn sehr nahe beieinander bzw. überlagern sich teilweise.
Genauso wie Schmerz vom Hirn gelernt werden kann, kann sich dieses auch daran gewöhnen, ständig extrem wachsam und ängstlich zu sein, ohne dass tatsächlich Gefahr besteht. Es gibt viele Faktoren, die dazu beitragen können:
- Entwicklungs- und Schocktraumata54, 60, 78
- Schwierige Erfahrungen in der Kindheit wie Konflikte zwischen den primären Bezugspersonen, Trennungen oder Scheidungen, Mobbing, Lernschwierigkeiten, … 56-59
- Erfahrungen mit herausfordernden Lebenssituationen im Erwachsenenalter wie Arbeitslosigkeit, Schwierigkeiten in persönlichen Beziehungen, Tod einer nahestehenden Person, …54
- Grosse Veränderungen im Leben - auch positive wie z.B. Kinderkriegen, eine Beförderung, …54
- Verschiedene Persönlichkeitsmerkmale und Verhaltensweisen54, 61-63
- Perfektionismus, übermässige Gewissenhaftigkeit und Selbstkritik
- Hohe Ansprüche an sich selbst stellen und sich stark unter Druck setzen
- Das Bedürfnis, es anderen ständig recht machen wollen (“People Pleasing” und damit Authentizitätsverlust)
- Schwierigkeiten, für sich selbst einzustehen und Grenzen zu setzen
- Ein geringes Selbstwertgefühl
- Sich ständig Sorgen machen und alle potenziellen Probleme antizipieren (“Katastrophieren”)
- Schwierigkeiten, Emotionen und Gefühle wahrzunehmen und/oder auszudrücken79, 80
Wenn wir Angst verspüren, kann das Hirn entscheiden, dass es sinnvoll ist, mit Schmerz zu warnen. In anderen Worten: Angst trägt zur Entstehung von Schmerz bei42-51.
Von zentraler Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass das Hirn kaum unterscheidet, ob es sich um physische (z.B. Angst, dass uns eine bestimmte Bewegung schadet) oder um emotionale Bedrohungen (z.B. Angst vor Zurückweisung oder Versagen) handelt54, 64.
In Folge 11 vom Podcast ‘Muss das so wehtun?’ sprechen wir eine Stunde lang über ‘Angst’ und allem, was dazugehört. Die Folge stellt eine wertvolle Ergänzung zu diesem Abschnitt dar.
Der Schmerz-Angst Kreislauf
Für Menschen mit chronischen Schmerzen ist der Schmerz-Angst Kreislauf von grosser Bedeutung. Wenn wir viel schmerzbedingte Angst erfahren und uns mit dem Schmerz beschäftigen ('Katastrophieren'), wird das Hirn darin bestärkt davon auszugehen, dass der Schmerz eine Gefahr darstellt. Um vor der Gefahr zu warnen, sendet es noch mehr Schmerz aus beziehungsweise lässt die Schmerzempfindung bestehen.Im Falle von neuroplastischen Schmerzen entscheidet mitunter die Art und Weise, wie wir auf die Schmerzen reagieren darüber, ob das Alarmsignal (Schmerz) bestehen bleibt oder ausgeschalten wird50.
Der Kreislauf funktioniert folgendermassen:- Schmerz löst Angstgefühle aus: Wie lange bleibt der Schmerz diesmal bestehen? Wird er schlimmer? Kann ich es aushalten? Muss ich meine Verabredung schon wieder absagen? Kann ich arbeiten usw.
- Die Angst versetzt das Hirn in einen Alarmzustand, was zu weiteren Schmerzen führt.
- Was zu mehr Angst führt.
- und so weiter und so fort…
Ziel neuerer Behandlungsansätze ist es, diesen Kreislauf zu durchbrechen. Wenn es gelingt, die Angst im Zusammenhang mit Schmerz zu verringern, wird der Schmerz mit der Zeit schwächer und verschwindet in vielen Fällen komplett65-75.
Pain Reprocessing Therapy
Auf Basis der oben beschriebenen Erkenntnisse aus der Schmerzforschung wurde ein neues, praxiserprobtes Therapiekonzept entwickelt: Pain Reprocessing Therapy (PRT). Es ist ein Training für das Hirn, bei welchem mittels psychologischer Techniken neue neuronale Strukturen gebildet werden, um Schmerzsymptome wieder zu verlernen76. PRT ist damit eine konkrete Behandlungsmethode, die sich aus dem Mind Body Verständnis ableitet und die wir hier als eine Art Grundgerüst nutzen für den Prozess, von chronischen Schmerzen & Symptomen zu heilen.
Alles nur in meinem Kopf? Nein!
Auch wenn neuroplastische Schmerzen mit psychologischen Ansätzen behandelt werden können, bedeutet dies nicht, dass solche Schmerzen eingebildet oder weniger real sind. Lernprozesse mit messbaren physiologischen Veränderungen im Hirn führen zu Schmerzempfindungen, welche nicht unterscheidbar sind von Schmerzempfindungen aufgrund von strukturellen oder organischen Schäden77.
Quellen
Die Informationen dieses Abschnittes sind hauptsächlich zusammengetragen aus dem Buch The Way Out (Kapitel 2) von Alan Gordon und dem Arbeitsbuch The Pain Management Workbook (Kapitel 3) von Rachel Zoffness. Wir empfehlen, nach Möglichkeit die Originalquellen zu lesen. Darin finden sich zusätzliche Ausführungen und Beispiele sowie eine umfassende Auflistung der wissenschaftlichen Studien. Das Buch von Alan Gordon gibt es unterdessen auch auf Deutsch (‘Wege aus dem Schmerz’).
Wir empfehlen zudem die Videoserie von Howard Schubiner, in der er den Mechanismus „Schmerz“ von Grund auf erklärt und auf die Entstehung chronischer, neuroplastischer Schmerzen eingeht.
Ebenfalls empfehlen wir den 25-minütigen Vortrag von Lorimer Moseley zum Thema Schmerz und Angst.
Frühkindliche Erfahrungen (aber auch unsere Sozialisation in einer patriarchal geprägten Gesellschaft) nehmen eine Schlüsselrolle ein für unsere Wahrnehmung der Welt, wie wir andere Menschen und unseren Platz in der Welt sehen sowie bei der Stressphysiologie. Faktoren, die sich auf unsere Überzeugungen, Verhaltensweisen und Denkmuster und damit auf die Gesundheit auswirken. Für eine vertiefte Auseinandersetzung damit, wie unser Nervensystem durch frühkindliche Erfahrungen und epigenetische Faktoren geformt wird und wie sich dies auf unser Leben auswirkt, empfehlen wir das Buch ‘Der Mythos des Normalen’ von Gabor Maté sowie das Buch ‘Auch alte Wunden können heilen’ von Dami Charf.
Eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Idee der Polyvagaltheorie (wissenschaftlich umstritten und bislang empirisch nicht nachgewiesen) kann hilfreich sein, um zu verstehen, wie unser Nervensystem funktioniert und warum chronische Zustände erhöhter Alarmbereitschaft (Fight-Flight-Freeze) sowie damit verbundene neuroplastische Schmerzen & Symptome auftreten können. Obwohl die Theorie von Stephen Porges in der Wissenschaft umstritten ist und bislang empirisch nicht nachgewiesen werden konnte, zeigt sie in der praktischen Umsetzung, insbesondere in der modernen Traumatherapie und in der Behandlung von neuroplastischen Schmerzen & Symptomen, positive Effekte.